Matthias Marschik / Rudolf Müllner / Georg Spitaler / Michael Zinganel

Einmarsch ins Stadion: Einleitung

Der junge Journalist Martin Maier beschrieb in seinem „Versuch einer kritischen Beurteilung“ der Olympischen Winterspiele 1948 die kulturelle Wiedergeburt Österreichs bei der Eröffnungsfeier im Eisstadion von St. Moritz: „Ein Tafelträger mit dem Namen des Landes, dahinter der Fahnenträger, dann die Offiziellen und die Wettkämpfer, so lautete die Rangordnung innerhalb der einzelnen Expeditionen. Aber selbst ohne Visitenkarte, selbst ohne Landesfahne, hätte man einzelne Länder erkannt. Der lange, lange Zug, die Männer in prächtige weiße Jacken gekleidet, der wie eine Invasion des Bizeps anrollte, das konnten nur die Amerikaner sein! Die aufrechten Gesellen in leuchtendem Blau: die Schweden! Die drei ernsten Gestalten, das asiatische Antlitz regungslos nach vorne gewendet: die Koreaner! Und dann ein Troß, dessen Schritte ein wenig ernster, ein wenig bedächtiger schienen als die der anderen. Es waren wirklich besondere Schritte, die ersten, die dieses Land nach langen Jahren der Isolation wieder in die freie, große und weite Welt tat: Österreich marschierte ein! Das Grün der Jacken, wie eine Erinnerung an den österreichischen Bergfrühling, tupfte einen freundlichen Farbfleck in das Stadion, unternehmungslustig saßen die Tiroler Hüte auf dem Ohr. Die Ränge winkten, Beifall rauschte auf, wanderte mit dem schmucken Zug um das Stadion, viele gute Wünsche, ausgesprochen in allen Sprachen, begleiteten die Wettkämpfer. Die Welt hatte Österreich die Hand gereicht: ‚Schlag ein, Austria! Willkommen!’ Und Österreich schlug ein“.

Vieles wäre zu sagen über die Sichtweise Martin Maiers, seine Verwendung nationaler Stereotypen, seinen ausschließlich männlichen Blick oder seine Ruralisierung des Österreich-Bildes, das bereits den Übergang von einer Donau- zu einer Alpenrepublik vorwegnimmt. Im Zentrum unseres Blickes steht aber ein anderer Eckpfeiler des Maierschen Szenarios, nämlich dessen äußerer Rahmen, das St. Moritzer Eisstadion. Maiers Gemälde der österreichischen Renaissance, das vom Weiß des Schnees und Eises geprägte Bild, dem vor allem die Österreicher einen „freundlichen Farbfleck“ der nationalen, politischen Manifestation aufsetzten, ist nicht denkbar ohne den Ort des Stadions mit seiner von der Außenwelt getrennten Atmosphäre, mit seiner Differenzierung in Publikum und Aktive, mit seinen auf die ‚Massen’ ausgelegten Dimensionen und seiner Adaptierung für die Medien, die das Ereignis ‚weltweit’ verbreiten. Es ist letztlich das spezifische Terrain des Stadions, das die nationale Manifestation überhaupt erst ermöglicht.

Stadien erweisen sich als emotional hoch aufgeladene Orte, was ihre kollektiven wie individuellen Bedeutungen betrifft. So ist also zu fragen, welche Bedeutungen dem Stadion in solchen und ähnlichen Inszenierungen wie jener Martin Maiers zugeschrieben wurden und werden, welche Funktionen Stadien – und es handelt sich dabei (fast) immer um Sportstadien – in solchen Bildern von kultureller, politischer und ökonomischer Relevanz übernahmen bzw. übernehmen. Wie hat sich das Stadion selbst und wie haben sich seine Zuschreibungen und Nutzungspraxen, seine Funktionen und Bedeutungen im Laufe der Jahrtausende verändert, zieht man in Betracht, dass ja schon das antike Griechenland die Rahmenbedingungen des aktuellen Stadions vorgegeben und vorweggenommen hat, nicht nur in seinen architektonischen Ausgestaltungen, sondern noch viel mehr in seiner Funktion als vordergründig sportlicher, jedoch zugleich politischer, (zivil-)religiöser und nicht zuletzt ökonomischer Ort. 

Wo findet sich – und zwar an welchem unmittelbar topographischen wie mittelbar kulturellen Ort – das Stadion in einem primär von politischen Prämissen geprägten 20. Jahrhundert? Wir finden Stadien als städtische Repräsentationsbauten, deren Flutlichtmasten ab den 1950er Jahren wie Kirchtürme in den Himmel ragen (John Bale), um vom Ruhm der ‚Religion Fußball’ ebenso zu zeugen wie von den Erfolgen einzelner Vereine. Wir finden Stadien als Orte nationaler Manifestationen und Auseinandersetzungen, und das keineswegs nur in diktatorischen Regimes (man denke an das Foro Mussolini in Rom oder das Reichssportfeld in Berlin), sondern gerade auch als – vorgeblich unpolitische – Signale demokratischer Überlegenheit oder als Zeichen sozialistischer oder kommunistischer Herrschaft und Hegemonie. Wir finden Stadien zugleich als Orte wirtschaftlichen Erfolges; die permanenten Ausbaustufen vieler Stadien seit den 1920er Jahren stehen dabei für den Versuch, die Einkünfte aus Zuschauereinnahmen zu maximieren, die Rückbauten und Umwandlungen in reine Sitzplatzstadien dagegen verweisen auf geänderte Rahmenbedingungen eines medialisierten und ökonomisierten Sportes, der seine Gewinne nicht mehr primär über Besucherzahlen, sondern über TV-Einnahmen und Werbung lukriert und dazu eines in mehrfacher Hinsicht sauberen und gesäuberten Stadions bedarf. Wir finden Stadien nicht zuletzt als popularkulturelle Orte, in und vor denen sich ‚Massen’, Männlichkeiten und lokale Mentalitäten in je spezifischer Weise artikulieren. Das Stadion verwandelt sich dabei in einen ‚exterritorialen’ Raum, der zugleich von strengen Regeln und Ordnungen – auf dem Spielfeld wie auch den Zuschauerrängen – geprägt ist, wie er ein potentielles Terrain der Durchbrechung von Normen darstellt.

Eine Durchbrechung der Norm stellen möglicherweise auch die – vordergründig – ‚inadäquaten’ Nutzungen von Stadien dar, die ja meist für eine sportliche Verwendung konzipiert und gebaut wurden, auch wenn, wie etwa beim Wiener Stadion, mitunter die Abhaltung anderweitiger Veranstaltungen, in diesem Fall sozialdemokratischer Massenaufführungen, bereits mit berücksichtigt war. Doch die spezifische Architektonik der abgeschlossenen, für die Disziplinierung des Blickes von ‚Massen’ entworfenen und nach Klassen- und Geschlechtermustern segregierten Stadien erwies bald ihre Tauglichkeit für unterschiedliche Anlässe. Von Dollfuß’ Trabrennplatzrede bis zu Hitlers und Goebbels’ Sportpalastreden wurden Stadien und Sportarenen für politische Manifestationen genutzt; ebenso dienten sie als Kasernen und als Lager, als Gefängnisse und Orte religiöser Versammlungen. Sie ließen sich für Opernaufführungen, Zirkusvorführungen und Rock-Konzerte ebenso verwenden wie als Campingplätze oder – in den Kriegsjahren – als Gemüsegärten.

Die mächtigen Ovale der Sportstadien sind nachhaltige architektonische Marker der Moderne. So verwundert es nicht, dass diese Bauwerke wie auch ihre Nutzung zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer massiven Erosion ausgesetzt sind. Architektonische Beliebigkeit, Multifunktionsbauten oder auch temporäre Stadien, die nur für bestimmte Events errichtet und danach wieder abgetragen werden, bestimmen das post- bzw. spätmoderne Erscheinungsbild des Stadions. Die klassischen, festgefügten, aus Stahl und Beton errichteten Sportarenen scheinen mehr denn je entbehrlich, zumindest wenn man die ökonomischen Aspekte des modernen Sportbetriebs betrachtet. In Relation zu den Einnahmen durch TV-Rechte oder Merchandising sind die Gewinne, die die Sportveranstalter durch den Ticketverkauf lukrieren, beinahe vernachlässigbar; Sportstadien scheinen nur noch als eine Art multifunktionales Fernsehstudio zu dienen, die den RezipientInnen eine vertraute Einheitskulisse vorführen, gepflastert mit blinkenden Firmenlogos und Videowall. Das Stadion mutierte zur sterilen, letztlich austauschbaren gut ausgeleuchteten Bühne, die Fanmassen vor Ort werden zum Teil des telegenen Gesamtarrangements und sollen den TV-ZuschauerInnen das Gefühl vermitteln, nicht allein vor den Bildschirmen zu sitzen. Trotz solcher Tendenzen zur totalen Mediatisierung des Sports werden mit Milliardenaufwand immer neue Großarenen errichtet. Die letzten eindrucksvollen Beispiele brachte die Euro 2004 in Portugal. Aber auch Deutschland rüstet seine Stadien für die Fußballweltmeisterschaft 2006 um und nach.

Wo also ist das Stadion, als architektonisches Monument wie als kultureller Ort, als unmittelbare Substanz wie als Symbol und Zeichen – und so manches Stadion auch bereits als Mythos – in diesem Spannungsfeld von ‚unpolitischem’ Sport und wenig sportinteressierter Politik, von popular- und massenkultureller Faszination und ökonomischem Interesse, zu verorten? Ist es ein von der Politik mitunter vereinnahmter Raum des hehren Sportes, bildet die Ökonomie oder aber die Massenwirkung die Klammer, die im Stadion Politik und Sport zueinander führt? Ist das Stadion ein Ort maskulinen politischen Ausdrucks oder gerade ein Raum, in dem sich ‚Politikverdrossenheit’ manifestiert? Und wie unterscheiden sich die komplexen Artikulationen von Sport und Politik, Ökonomie und Massenkultur über verschiedene Zeiten hinweg an verschiedenen Orten? Ist es schließlich gerade das Stadion, das die heutzutage kaum mehr hinterfragte bürgerlich-liberale Konstruktion eines ‚unpolitischen’ Vergnügens Sport zum Kippen bringen kann?

Mit diesen Fragen haben sich die Herausgeber seit dem Frühjahr 2003 auseinander gesetzt und alsbald beschlossen, in einem multidisziplinären Ansatz AutorInnen aus den Bereichen Politik-, Sport-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft, weiters Journalisten, SoziologInnen, HistorikerInnen, ArchitektInnen, Geographen und MedienkünstlerInnen zu Beiträgen einzuladen. Die AutorInnen stammen aus Österreich, Deutschland, Großbritannien, den USA, den Niederlanden und Spanien. Herausgekommen ist, so hoffen wir, ein Band, der den Themenkomplex Sport und Politik rund um den Nukleus des Stadions von einer neuen und unüblichen Warte beleuchtet.

Den Einstieg bildet die melancholische Fotoarbeit „Football Series“ der britischen Künstlerin Julie Henry aus dem Jahre 1999: Sie zeigt uns Nahaufnahmen von Fans und Fangruppen im Stadion, deren verklärte Blicke kollektiv auf ihre vergötterten Helden gerichtet sind oder sich, individuell im Gebet versunken, völlig verschließen. Die Fotos der Fans ergänzt sie mit den Notationen ihrer jeweiligen Hymnen, als handelte es sich dabei um die Notenblätter für Kirchengesänge oder Psalme: "You`ll never walk alone", "The great escape", "Take it up the arse" und "Amazing Grace" sind bezeichnende Titel für die totale Hingabe der Fans innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft und für das Changieren zwischen profanen und religiösen Transzendierungsversuchen, die für viele die wirkliche Attraktivität der Stadion-Atmosphäre auszumachen scheinen.

Nach diesem emotionalen Beginn haben wir zwei theoretische Artikel als breitgefächerte Einführung in die Thematik vorangestellt: John Bale, der Masterdenker der Kontexte von Sport und Raum, leitet den Band mit einem programmatisch-theoretischen Aufsatz „Das Stadion als Überwachungsraum“ ein: Er sieht in der zunehmenden Organisierung und Organisiertheit des Stadionraumes – auf dem Spielfeld wie auf den Tribünen – ein stetes Mehr an Macht und Kontrolle, das eine (politische) Nutzung von Stadien in diesem Sinne geradezu herausfordert. Zugleich macht er in den aktuellen Entwicklungstendenzen der Stadien aber auch resistent-widerständige Elemente aus, die ansatzweise imstande sind, die strenge Ordnung moderner Sport- und Stadionstrukturen zu unterlaufen.

Der österreichische Architekturkritiker und Publizist Jan Tabor zeichnet in der Folge eine architekturhistorische Skizze des Stadions: In seinem Beitrag zum „Stadion als Typus des Geltungsbaues“ stellt er auf die Frage der Erwartung ab, die dem Stadionbau in mehrfacher Weise inhärent ist. Es geht dabei einerseits um die Erwartung des kommenden Ereignisses, wobei das Spielfeld als tabula rasa zu sehen ist, von dem alles Alte weggewischt ist: Die ZuschauerInnen sind in Erwartung des Neuen, das demnächst geschrieben werden wird. Das Stadion repräsentiert damit die Dialektik von leer und voll, denn das leere Stadion antizipiert stets das volle. Andererseits geht es um die ökonomischen und politischen Erwartungen der Stadionbauer, die Propagandawirkungen in verschiedenstem Sinn intendieren. Durch die kulturellen Ummantelungen des Stadions durch Büros und Shopping-Malls geht diese Dialektik zunehmend verloren, wobei Jan Tabor in den Stadien der Euro 2004 in Portugal eine Trendumkehr zu neuer Klarheit ortet.

Die weiteren Artikel des Buches haben wir zu drei Abschnitten zusammengefasst. Das Kapitel „Stadion als historisch politischer Raum“ vereint vier Texte, die sich einerseits mit Sportkultur und Stadien in der Antike und andererseits mit zwei zeitgeschichtlichen Beispielen aus Österreich und Deutschland beschäftigen. Es ist – abgesehen von den konkreten Beispielen – frappierend zu sehen, wie sehr moderne Tendenzen des Stadions an antike Vorbilder rückgebunden sind.

Der Grazer Althistoriker Werner Petermandl („Geht ihr aber ins Stadion …“) skizziert in einer quellenkritischen Analyse Facetten des Sportpublikums, die für die Antike wie für die Moderne nachweisbar sind. Er begibt sich damit auf die Suche nach so etwas wie „anthropologischen Konstanten“ des Zuschauerverhaltens und versucht zu beschreiben, was die Menschen heute und in der Antike ins Stadion  lockte, wie sie sich dort verhielten und was sie so erregte. Selbst diese Fragen sind nicht neu. Sie wurden bereits im 1./2. Jahrhundert nach Christus von Dion Chrysostomos öffentlich debattiert. Die Phänomenologie des Zuschauerverhaltens gliedert Petermandl in elf Kapitel, die etwa mit „die Lust am Zuschauen“, „Emotionalität“, „Gewaltbereitschaft“, „Faszination von Gewalt, Grausamkeit und Gefahr“, „Frauen“ oder „Identifikation und Chauvinismus“ umschrieben sind. Ein eigener Abschnitt ist der öffentlichen Selbstinszenierung von Politikern im Stadion gewidmet. Auch die Politiker der Antike wussten, dass es gut ankommt, wenn man sich im Stadion zeigt. Über Caesar erfahren wir zum Beispiel, dass er getadelt worden war, weil „er sich während des Schauspiels Zeit nahm, Briefe und Bildschriften zu lesen und zu beantworten.“

Bettina Kratzmüller („quae beneficia e medio stadio Isthmiorum die sua ipse voce pronuntiavit“) beleuchtet die Zusammenhänge von „Stadion und Politik“ aus drei Perspektiven. Es sind das: 1. Das Sportstadion als Ort der politischen Inszenierung und Interventionen verschiedenster Art; 2. Der antike Stadionbau als „politische Architektur“ sowie 3. die Instrumentalisierung antiker Stadienbauten für politische Zwecke in der Neuzeit. Die Autorin zeigt, wie etwa bei den vier panhellenischen Agonen bereits politisch motivierte Boykottmaßnahmen bzw. Ausschlüsse von einzelnen Teilnehmern praktiziert wurden. Ein spezielles Kapitel widmet Kratzmüller der Zuschauerverteilung im antiken Stadion. Politische Honoratioren oder die Vertreter offizieller politisch kultischer Gesandtschaften (theoroi) hatten privilegierte Sitzplätze. Die Sitzplatzverteilung spiegelte die in manchen Stadien auf spannende Art nachweisbaren sozialen oder ethnisch politischen Zusammenhänge wider.    

So groß die Unterschiede zwischen antikem Ritual und modernem Sport, zwischen griechischer Polis und Nationalstaat auch sind: Das Stadion als öffentlicher Raum, politisch und ‚antipolisch’ zugleich, blieb Schauplatz solcher sozialen und politischen Konflikte, Mobilisierungen und Manifestationen.

Im September 1972 nahm eine palästinensische Guerilla-Organisation elf Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft als Geiseln. Zwei wurden sofort ermordet. Was folgte war eine missglückte Befreiungsaktion, ein Massaker auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck und die Fortsetzung der Spiele im Münchner Olympiastadion. Swantje Scharenberg („Nachdenken über die Wechselwirkungen von Architektur und Wohlbefinden“) zeigt, wie sich im Münchner Olympiastadion Olympia-, Deutschland- und Weltpolitik verdichten. Und wie letztlich das Konzept von den „freundlichen, friedvollen Spielen“ am internationalen Terror zerbrach. Mit dem legendären Satz „The games must go on“ setzte IOC-Präsident Brundage die Spiele fort. Sportarenen als Ziele politischer, terroristischer Anschläge sind heute aktueller denn je. In den Stadien wird es erst dann wieder ein „normales“ Zusammensein geben, wenn, so Scharenberg, „der Versammlungsort politisch keine Bedeutung mehr hat, aus der Öffentlichkeit genommen wird.“ Im Münchner Olympiastadion wird bei der Fußball-WM 2006 kein Spiel mehr stattfinden, es hat als Ort nationaler deutscher Identifikation ab 2005 ausgedient.  

Unter anderen lokal- und weltpolitischen Prämissen ist das Wiener Praterstadion entstanden. Aber auch die Frühgeschichte dieser Sportarena ist seit der Grundsteinlegung im Herbst 1928 vor allem unter den manifesten politischen Rahmenbedingungen zu lesen. Da dieses Feld bis jetzt wenig dokumentiert ist, versucht Rudolf Müllner („Das Wiener Stadion: Historische Vermessungen an einer modernen Sportstätte“) zunächst eine Art erste Begehung und Vermessung des historischen Terrains Wiener Stadion. Der Autor geht den Entstehungsbedingungen des österreichischen Nationalstadions im Wiener Prater in der Zeit des „Roten Wien“ nach. Dazu werden auch die Intentionen des deutschen Architekten Otto Ernst Schweizer rekonstruiert, der ein weit über das Betonoval hinausreichendes, nahezu philanthropisch anmutendes Gesamtkonzept für den Wiener Prater entwarf. Müllner beschäftigt sich mit den sportpolitischen Implikationen der dreißiger Jahre und stellt Bezüge vom Wiener Stadion zu anderen europäischen und außereuropäischen Projekten her. Die Nutzung für sportpolitische Masseninszenierungen in den 1930er-Jahren („Arbeitersportolympiade“) aber auch der Missbrauch des Sportbaus als nationalsozialistisches Gefängnis, als Vorhof zum Konzentrationslager Buchenwald, lassen sich dabei nachweisen.

Vom historischen zum aktuell politisch aufgeladenen Stadion leitet und der spanische Künstler Antoni Muntadas über, der in seinem fünfzehnseitigen, verdichteten Fotoessay Ausschnitte aus der Arbeit MEDIA STADIUM aus 1992 zeigt, in der er ausschließlich Bilder aus der massenmedialen Repräsentation von Stadien, aus Zeitungsausschnitten und Filmstandbildern, zu Collagen zusammen gefügt hat. Die Kategorien ihrer Ordnung spannen eine Bogen von der Architektur, der Symbolpolitik, der Massenchoreographie und dem Kontrollregime im Stadion bis zur dessen Mediatisierung, um die ihm wichtigsten Aspekten moderner Stadien zu benennen.

Aktuelle ‚politische’ Aspekte des Stadions, seiner Architekturen und Nutzungen, behandelt der zweite Abschnitt des Bandes: Zunächst beschäftigt sich Camiel van Winkel in seinem ausführlichen Beitrag mit der „Masse im Stadion“. Seiner Ansicht nach wurde keine andere Bauform in 20. Jahrhundert zu einem vergleichbaren „Schauplatz physischer Konfrontation zwischen Masse und Architektur“. Mit einem Rückgriff auf Elias Canettis klassischen Theoretisierungsversuch von Masse und Macht zeichnet van Winkel die jeweiligen politischen wie architektonischen Auseinandersetzungen mit ‚den Massen’ im vergangenen Jahrhundert nach – von den politischen ‚Massenbewegungen’ der Zwischenkriegszeit und ihren nicht zuletzt in den Stadien aufgeführten Aufmärschen, Feiern und Versammlungen („politischem Massentheater“), die dazu dienen sollten die ‚Masse’ an sich zu binden und in disziplinierte ‚Bewegung’ zu verwandeln, über die ‚funktionellen’ und ‚depolitisierten’ Stadien der Nachkriegszeit und ihre ‚unideologischen’ Logiken der bulk-technology bis hin zu jenen überdimensionierten Fernsehstudios der Gegenwart, die, in der Sicht des Autors, die ‚Masse’ scheinbar endgültig pazifiziert zu haben scheinen: „Die Masse wurde zerstreut, zerlegt und nach Hause geschickt“, so van Winkel.

Der expliziten und bewussten ‚Einschließung’ von Körpern im Stadion widmet sich Bernhard Hachleitner. Er geht in seinem Aufsatz zum „Stadion als Gefängnis“ der Frage nach, warum Stadien im Verlauf des 20. Jahrhunderts so oft zu Orten staatlichen Terrors wurden. In theoretischer Auseinandersetzung mit Foucaults Konzept des Panopticons untersucht Hachleitner, was das Stadion mit diesem gemeinsam hat bzw. was es von einer solchen Überwachungsanlage unterscheidet. Anhand zahlreicher tragischer Beispiele – von Chile 1973 bis Afghanistan unter den Taliban – fragt er unter anderem danach, in welchen politischen Situationen Stadien zu Gefängnissen umfunktioniert wurden und was mit solchen belasteten Terrororten passiert, nachdem die sportliche Normalität wieder Einzug gehalten hat. Hachleitner beschreibt unterschiedliche Strategien des Erinnerns und Vergessens und hält dabei fest, dass die einfache Rückkehr zu sportlicher Praxis, ohne bewussten Akt des Gedenkens, die Schatten der Vergangenheit nicht vertreiben kann.

Auch der Journalist Uwe Mauch beschäftigt sich mit dem Stadion als politischem ‚Gedächtnisort’: („’Vukovar!’ – ‚Vukovar!’ Das Zagreber Maksimir-Stadion“): Am Beispiel des Maksimir-Stadions in Zagreb demonstriert er, auf welche Weise sportliche Arenen auch heute noch einen Ort für – im engeren Sinn – politische Inszenierungen und Manifestationen abgeben: Spätestens seit jenem berüchtigten Liga-Spiel zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad am 13.5.1990, das aufgrund der schweren Ausschreitungen auf den Rängen und auf dem Feld nie angepfiffen werden konnte, bleibt das Maksimir-Stadion für seine BesucherInnen mit den blutigen nationalen Konflikten im ehemaligen Jugoslawien verbunden. Im unabhängigen Kroatien diente dieses Stadion der Politik als „Symbol für die kroatische Wehrhaftigkeit und den nach dem Krieg begonnenen kroatischen Wiederaufbau“.

Ebenfalls unter dem Aspekt von ‚Erinnerung’ nähern sich Max-Morten Borgmann und Markus H.W. Flohr dem Thema Stadionnamen („Nenn mir einen guten Ground. Das Stadion und sein Name: Mythos, Katastrophe, Zankapfel“): In ihrem Text untersuchen sie, nicht zuletzt aus Fan-Perspektive, welche Kriterien für die Benennung europäischer (Fußball-)Stadien ausschlaggebend waren, und beschreiben unterschiedliche existierende Varianten:

Oft gingen den Namensgebungen Konflikte voraus, die im Kern nicht zuletzt die ‚Identität’ des jeweiligen Heimvereins bzw. die Frage behandelten, wem das Stadion gehöre – Fans, Vereinsfunktionären oder Sponsoren. Immer öfter würden heute auch die Namen der Stadien „vom Identifikationsmodell zum Vermarktungstool“. Zum Mythos im positiven wie negativen Sinn („Wembley“, „Heysel“) werden solche Namen durch die Geschichte(n) und Ereignisse auf dem Feld und auf den Rängen.

Markus Pinter widmet sich dem Stadion als Ort symbolischer Politikvermittlung und fragt anhand des Fußballs nach den Gründen, warum sich politische RepräsentantInnen mit Vorliebe auf den Ehrentribünen des Sports tummeln („Die Ehrentribüne als politische Bühne. Politiker im Fußballstadion“). Mithilfe historischer und aktueller Beispiele (Argentinien 1978, die EURO 2004) unterscheidet Pinter diesbezüglich unterschiedliche Ebenen der politischen Bezugnahme: „Politik durch Fußball“ umfasst für ihn den medial sichtbaren Auftritt in den Arenen dieses Sports zu Zwecken politischer Vermittlung. „Politik im Fußball“(-Stadion) meint darüber hinaus jene Vergemeinschaftungen und ritualisierten Verhandlungen von Identitäten in den Stadien, die den Fußball in vielen Staaten bis heute z.B. männlich kodiert erscheinen lassen – als Ort an dem „Männer für Männerpolitik“ mobilisiert werden können. Der Autor widmet sich darüber hinaus „Politikern als Fußballern“, also der Inszenierung sportlicher Politiker. Sein Fazit: Die politischen Darstellungen in den Stadien glücken nicht immer, doch „die ungemeine Popularität und Präsenz des Fußballs in der (Medien)Öffentlichkeit“ bietet der Politik die Chance unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und -schichten zu erreichen. Das Stadion ist dabei Auftrittsort und Multiplikator zugleich.

Das dritte Kapitel ist den Ökonomisierungstendenzen des Stadions gewidmet: Sie lassen aus europäischer Perspektive vorerst noch eine Differenzierung in zwei Tendenzen offen, nämlich eine genuin europäische Entwicklung einerseits und die US-amerikanischen Veränderungen, die sukzessive auf Europa übergreifen, andererseits. Gemeinsam ist beiden Entwicklungssträngen, dass sie den Primat der Ökonomie verdeutlichen: Das bis in die 1980er Jahre gültige Bild des Stadions als primär politisches Zeichen wird verdrängt durch einen Wirtschaftlichkeitsdiskurs, der politische Aussagen und Manifestationen zwar nicht unterbindet, aber zu einem sekundären Phänomen, zu einem Beiwerk, reduziert. Gemeinsam ist weiters aber auch die grundsätzliche Offenheit des Prozesses: Die Entscheidung, ob sich der Stadionbau in Richtung Multifunktionalismus und damit zur Beliebigkeit des Stadions oder aber zu einer neuen Klarheit einer sportspezifischen und sportzentrierten Architektur weiterentwickelt, scheint, wie das ja schon Jan Tabor in seinem Einleitungsaufsatz an den Beispielen Athen und Portugal aufzeigt, noch nicht entschieden.  

Jochen Becker („Logistik der Massen. Vom Stadion zur Freizeitindustrie“) nimmt eine Architekturausstellung über die Geschichte des Fußballstadions anlässlich der EM 2000 in Rotterdam und den dazu erschienen Katalog zum Anlass, den Stand des Diskurses des Stadionbaus zu evaluieren, der von Widerspruch zwischen Gigantomanie und Monumentalität einerseits und der radikalen Mediatisierung andererseits geprägt ist, die eigentlich zur Auflösung der Stadion in Bluebox-Architekturen hätte führen müssen. Er geht dabei unter anderem dem „Disneyfizierungsprozess“ bei der Inszenierung von Sportgroßevents nach und skizziert eine Zukunft, in der Stadien voll gepackt mit Kino- und Ausstellungsflächen, Geschäften, Restaurationen als vollkommene Erlebniswelten fungieren werden.

Michael Zinganel und Christian Zillner („Stadien in Auflösung. Ephemere Stadien oder das Verschwinden der Monumente in der Eventgesellschaft“) gehen davon aus, dass Sponsoring und Fernsehrechte noch stärker als bisher zu den zentralen Faktoren der Finanzierung von Sportveranstaltungen beitragen werden. Zudem würden Stadionbetreiber in zunehmendem Maße die Investitions- und Erhaltungskosten der Stadien durch Vermietungen als multifunktionale Eventlocations einspielen müssen. Daher würden zum einem die proletarischen männlichen Subkulturen ganz gezielt aufgebrochen werden, die Stadien also frauen-, familienfreundlich und VIP-tauglich gestaltet. Und zum anderen müssen sich Stadien angesichts der Markenpolitik potentieller Sponsoren nun auch dem Wettbewerb mit den hybriden Events neuer Trendsportarten stellen. Klassische Stadien werden daher zunehmend von ephemeren Event-Architekturen ergänzt, die aus wenigen standardisierten Tools bestehen, die an beinahe jedem beliebigen Ort errichtet und abgebaut werden können und die vor allem nach dem Bedarf der Kameraführung und Fernsehregie ausgerichtet werden.
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Mike Leeds, Ökonom an der Temple University in Philadelphia, skizziert in seinem Beitrag „Sieger und Verlierer im Spiel der Stadien“ die US-amerikanische Entwicklung der Stadionfinanzierung. Während von den 1930ern bis zum Beginn der 1970er Jahre primär private Geldgeber nicht nur Eigentümer des Klubs, sondern auch Financiers und Nutznießer der Stadien waren, entwickelte sich – als Folge des ‚Kalten Krieges’ ebenso wie als Resultat der zunehmenden Schwierigkeit, öffentliche Gelder zu lukrieren –, ein starkes Engagement von Stadtverwaltungen. Sie wollten in Form monumentaler Sportarenen sowohl regionale und nationale Monumente errichten, als auch direkt wie indirekt an den Stadien profitieren. Beide Hoffnungen wurden weitgehend enttäuscht, doch sind Klubs und deren Eigentümer inzwischen so stark geworden, dass sie die Stadtverwaltungen mit der Drohung einer Umsiedlung des Franchise-Klubs in eine andere Stadt weiterhin in die Pflicht nehmen.

Wie die aktuelle Situation in den drei großen US-amerikanischen Ligen im Baseball, Basketball und Eishockey aussieht, erklärt der Beitrag von Costas Spirou, einem Sozialwissenschafter an der National-Louis Universität in Chicago („Die Expansion von Stadien als kulturelle Strategie der Stadtplanung und Stadterneuerung in den USA“): Spirou lokalisiert den Stadionbau zwischen den genuinen Interessen der Klubs, der Eigentümer und der Stadtverwaltungen. Diese Interessen sind stets primär ökonomisch definiert und ihrer Realisierung sind daher logische Grenzen gesetzt. Deren Überschreitung ist nur dort möglich, wo Umwegrentabilitäten des Sports in der Form mitberücksichtigt werden, dass dabei nicht wiederum nur das finanzielle Moment zentral gestellt wird, sondern auch andere immaterielle Faktoren in den Blick kommen. Mag der Blick auf die US-amerikanische Stadionentwicklung mitunter aus europäischer Perspektive auch fremd anmuten, zeigen Spirous Exempel, wie nahe wir diesen Trends in manchen Fällen bereits gekommen sind.

 

Wir möchten uns abschließend bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die Beiträge für diesen Band verfasst haben und dabei nicht nur unsere Erwartungen erfüllt oder sogar übertroffen, sondern auch die deadline eingehalten haben. Das ist deshalb erwähnenswert, weil es sich abgesehen von den Beiträgen John Bales und Camiel van Winkels, die Überarbeitungen und Aktualisierungen bereits publizierter Aufsätze darstellen, durchwegs um Originalbeiträge handelt. Die Texte von Bale, Leeds und Spirou wurden von Matthias Marschik aus dem Englischen übersetzt, den Beitrag von Camiel van Winkel übersetzte Georg Spitaler ebenfalls aus dem Englischen, wobei er jedoch auch die niederländische Originalfassung mit berücksichtigte.

Unser Dank geht aber auch an alle Kolleginnen und Kollegen, die uns teils direkt zum Buch, teils allgemein zu unserem Thema Ideen und Vorschläge beigesteuert haben. Und nicht zuletzt möchten wir dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien Dank sagen, in dessen überaus kommunikationsförderlicher Küche die ersten Ideen zum vorliegenden Buch reiften.

Wien/Graz im Dezember 2004

Die Herausgeber 

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