Jörg Heiser

Boden der Tatsachen - Up, up and away
aus: Secession (Hg.), Michael Zinganel, Katalog zur Ausstellung, Wien 1999



Frage: verliert Kunst ihre Kraft, wenn sie sich auf Abläufe des sozio-ökonomisch und kulturindustriell überformten Alltags einläßt - oder erlangt sie sie gerade dadurch erst?

Antwort: es kommt drauf an was man draus macht.

Michael Zinganel wäre als gelernter Architekt und praktizierender freier Künstler eigentlich ein geeigneter Kandidat, kunstgeweihte Verbesserungsvorschläge an die herrschende Politik des Wohnens, Arbeitens und Repräsentierens zu richten. Diesem Andienungsverhältnis zieht er ein deutlich humorgeladenes Reflektionsverhältnis vor: sein Helium-Einfamilienhaus wird unbewohnbar sein, wie es da über der Sezession schwebt wie ein unbeschwertes Menetekel der Rezession (nur die Eigenheimerben unter den Kleinanlegern werden den großen Börsencrash verschmerzen können...). Den Pathos der Kritik des Einfamilienknasts, nicht selten vorgebracht von Menschen, die dem verhexten Elternhaus gerade noch mal in eine Single-Wohnzelle entkommen sind, läßt Zinganel mit Mickey Mouse-Helium hochgehen. Um es mit dem Refrain jener Sechziger Jahre-Geschwistergesangsgruppe zu sagen, die schon im Namen das domestizierende Häuserzimmern trägt, The Carpenters: up, up and away, my beautiful baloon.

Das Wohnen ist für Michael Zinganel keine neue Thematik, allerdings machte er als an Stadplanung Interessierter, durchaus verständlicherweise, bislang um das einzelne Eigenheim eher einen rechtwinkligen Bogen. So steigerte er z.b. bei "Morning Walks" (1997) und "Symposium" (1994) den soziologischen oder administrativen Versuch, die Benutzung des öffentlichen und privaten Raum zu erfassen und zu planen, in den minimalistischen Abstraktionswahn.

Welche Wege legen Menschen in ihren Wohnungen tagtäglich zurück? Wie ist ein gutfunktionierendes Symposium angelegt? Alles kein Problem, läßt sich ganz einfach geometrisch darstellen, ein Schaltplan der Lebenswirklichkeit - und Michael Zinganel ist der fiktive Trainer, der die Raumnutzung wie Spielzüge als feinsäuberliche, stets rechtwinklige Klebestreifen-Parcours am Boden nachzeichnet.

Nicht, daß Zinganel sich auf pseudo-dekonstruktives, bequemes Faken von Wissenschaftlichkeiten zurückzieht, als Entlarvungsgeste ausgestellt. Seine Nachzeichnungen der Lebenswirklichkeit bleiben vielmehr nah an deren tatsächlichen Ausprägungen; bis hin zu praktisch-soziologischen Projekten wie dem 1995 im Rahmen des Architektur-Festivals "80 Tage Wien" mit Studenten der Technischen Universität Wien durchgeführten "Freiraum Superblock. Leerstellen im sozialen Wohnungsbau". Die in den Zeiten sozialistischer Kommunalverwaltung zwischen 1919 und 1934 errichteten großen Gemeinde-Wohnburgen des "Roten Wiens" in der Innenstadt wurden insbesondere auf die heutige Nutzung ihrer Gemeinschaftseinrichtungen (Bäder, Waschküchen etc.) untersucht und Initiativen einer möglichen Neu- oder Umnutzung angeregt.

Das Hineingehen in die Kunst von der Architektur aus ist vor diesem Hintergrund kein Rückzug vor der sozialen Realität; im Gegenteil hilft die relative Autonomie des künstlerischen Arbeitens bis zu einem gewissen Grad, beim Umgang mit konkretem soziologischem Material Betriebsblindheiten wieder zu vermeiden.

So stellt sich Zinganels Arbeit seit Anfang der Neunziger zunächst als produktiver Schlingerkurs zwischen empirisch unterfütterten und fiktional-minimalen Raumerkundungen dar. Was zunächst als auratische Videoinstallation - ein schwarzer Kreis bewegt sich auf weißem Videogrund, kleine Monitore eingelassen in schwarze oder metallene Kuben und Kreisformen - Galerieräumlichkeiten erfüllte, fand sich z.B. 1993 auf den Bildschirmen Grazer Unterhaltungselektronik-Fachgeschäfte wieder; Ausstellungsbesucher suchten die Händler auf und ließen sich das Abspielen des Videobands auf den Vorführgeräten durch Stempel quittieren; den 10 Teilnehmern, die nachweislich alle 5 Stationen dieses "Local TV-Trips" besucht hatten, wurden in einem offizösen Festakt geehrt; die Involvierung des Betrachters durch den Künstler, die leicht einen unguten Beigeschmack von Lehrer-Schüler-Aufgabenstellung hat, wird durch die Steigerung ins Feierliche einer Schul-Ehrung wieder entkrampft - und die Utensilien der Ehrung (Tisch mit Sektgläsern, Lautsprecheranlage und Mikrophon) werden dabei selbst wieder zu formalisierten Installationselementen.

Mit "Symposium" (Galerie Medienkunst Innsbruck, 1994) hat Zinganel dann die institutionelle Obsession des diskursiven Schaukampfs auf den Boden ihrer räumlichen Struktur geholt. Tische und Stühle der ominösen Tagung mit dem offiziellen Titel "Symposium" waren ersetzt durch gleichgroße, mit Klebestreifen begrenzte Platzhalter am Boden; nur das Tischmikrophon und die - ganz wichtig: Tischkärtchen, jene Fetische akademischer Selbst-Repräsentanz, verwiesen physisch auf die lediglich strukturell anwesenden Teilnehmer. Eine Kamera übertrug das Nichtgeschehen in den zweiten Raum, eine Cafeteria, in der ein einzelner Aschenbecher und ein einzelner Teller auf einem gedachten Buffet-Tisch lockere Lobby-Atmosphäre andeuteten, während im Vorraum ein ebenfalls am Boden umrissener Akrreditierungstisch den Zugang zum Geister-Symposium regelte. Die erstaunlich gleichbleibenden Rituale akademischer Gipfeltreffen nüchtern und komisch auf ihre nackte Form reduziert: fehlt eigentlich nur noch ein Thema, und der Spaß bzw. das Grauen kann losgehen.

Wo Zinganels Vorgehen bei "Symposium" noch wie das Beispiels-Display einerfiktiven Firma für Tagungs-Design wirken konnte, kehrt er mit "Morning Walks" 1997 wieder in das dunkle Zwischenreich von privatem Wohnen und halböffenlichem kulturellen Raum zurück. Zunächst zeichnete Zinganel in der ersten Version der Arbeit in der Salzburger Galerie 5020 - deren Räumlichkeiten einmal als Wohnung genutzt worden waren - die Wege fiktiver Bewohner einer nach gesetzlichen und sozialen Anforderung genormten Zimmereinteilung mit verschiedenfarbigen Klebebändern nach. Für eine typische Möblierung standen Spanplatten am Boden ein, und nur der Fenseher war real zugegen, auf dem Interviews mit Berliner Kulturbeschäftigten liefen, die über den genauen Ablauf ihrer allmorgendlichen Tätigkeiten und Wegstrecken vor dem Verlassen des Hauses berichteten.

Noch konsequenter und realer ließ sich diese Arbeit in der Berliner Galerie Wiensowski & Harbord umsetzen; nicht zuletzt, weil die beiden Namensgeber des Ortes sich bereit erklärten, ihre tatsächlichen Wege in denen von ihnen auch als Wohnung genutzen großzügigen Räumlichkeiten auf die beschriebene Art nachzeichnen zu lassen und sich damit einer Art soziologischen Voyeurismus auszusetzen. Der lange Weg vom für Galeriebesucher sonst verborgen bleibenden Schlafzimmer zur kleinen Küche; die Stelle am Boden, an der die beiden Bewohner die Morgenzeitung zu stapeln pflegen, und die von den beiden verschiedenfarbigen Klebestreifen-Linien gänzlich frei bleibenden Zonen der Wohnung, die nur für Ausstellungszwecke genutzt werden - all das ergab ein ungewöhnliches Nutzungsgitter, das wie das Schnittmuster einer intellektuell-bürgerlichen Wohn- und Lebensgestaltung wirkte.

So wie sich die privaten Wirklichkeiten verschiedener gesellschaftlicher Klassenlagen in der Regel nur medial vermittelt begegnen, so wies auch Zinganel durch Fotos auf etwas außerhalb der Grenzen dieser Charlottenburger Wohnung hin. Beinahe wie kriminalistische Spurensicherung wirkten die Aufnahmen aus einer eng geschnittenen, leerstehenden Plattenbauwohnung im ehemals Ostberliner Stadtteil Hellersdorf, in denen Zinganel die Wege fiktiver und doch möglicher Bewohner wiederum mit Streifen auf dem Linoleumboden wiedergegeben hatte.

Hier laufen die Spuren künstlerisch aufgefaßter soziologischer Recherche und minimalistischer Formforschung endgültig zusammen. Die Klebestreifen scheinen zwar zu Bourdieuschen Indikatoren realer Lebensverhältnisse zu werden, zugleich aber offenbaren sie sich durch den stur rechtwinklig oder parallelen Verlauf sozusagen freiwillig als zwanghafte Illusion einer Normierung und Optimierung von Nutzungsweisen.

Ohne denunziatorisch geheime Wege des sozialen Abstiegs oder der Privilegiensicherung zu entlarven, scheinen die Klebestreifen so auch wie äußerliche Spuren von Versuchen des "Self-Managements", die tatsächlich im Zuge der wirtschaftsliberalen Revision der sozialen Ordnung alle gesellschaftlichen Schichten von Großunternehmer über Künstler und McJobber bis schuldbewußtem Arbeitslosem erfaßt haben. Absurde Rituale der Selbstoptimierung erobern die Tagesabläufe: wo kann ich noch Zeit sparen? Beim Frühstück, beim Schlafen? Wie verarbeite ich meine Sorgen und Nöte kostengünstig und energiesparend? Ein Thema, dem sich Zinganel im übrigen im Rahmen des Steirischen Herbstes 1996 explizit widmete, als er das Grazer Forum Stadtpark in eine temporäre Pension umkuratierte, wo Künstler als Herbergsväter und -mütter über Schlaf und Tagesgeschäft wachten und dabei zugleich ihre wirtschaftlichen Zweitexistenzen als Kellner, Gärtner oder Weinhändler einbrachten. Vielleicht sind es nicht zuletzt die dabei gesammelten Erfahrungen, die nun also die Frage nach dem Einfamilienhaus als einem Versuch, den Erst-, Zweit- und Drittexistenzen die gemeinsame Sicherheit eines Heimes zu geben, aufgeworfen haben .

Dabei ist das Häusl, mit Spitzgiebeldach und quadratischen Grundriß, dem aufgeklärten Urbanisten zunächst ein Greuel: es gilt als Rückfall der Moderne ins Ländliche. Tatsächlich diente es zu Beginn des Jahrhunderts einer ökonomischen Optimierung für den neuen Familientyp der beschleunigten Industrialisierung: der Kleinfamilie. Die vermeintlich idyllische Lage im Grünen entsprach der Analyse der desolaten sozialen und hygienischen Wohnbedingungen in den verusten Arbeiterghettos. Die Proportionen des Hauses, das Zinganel in die Luft steigen läßt, stellen eine Urform dieses Kleinfamilienhauses dar, wie es auch der Architekt Heinrich Tessenow 1911 fuer sich selbst gebaut hat. Tessenow, im Wohnhausdiskurs ein Apostel der Einfachheit, machte sich für den Import der angelsächsischen Gartenstadtbewegung in Deutschland stark. Als Lehrender war er zudem äußerst einflußreich, unterrichtete neben anderen später prominenten Architekten allerdings auch Albert Speer, der sich heftig bemühte, Tessenows Ideen den Nationalsozialisten anzudienen. Auch wenn Tessenow nicht so recht wollte (weit weniger jedenfalls als z.B. Mies van der Rohe, der sich nachweislich den Nazis angedient hatte, bevor sie sich für einen anderen Stil entschieden): Gartenstadt und Kleinhaus fügten sich zu Blut und Boden.

Der eigentliche Bauboom begann aber erst in der Nachkriegszeit, in Österreich statt mit Nazi-Propaganda nun mit katholischer Soziallehre untermauert. Auf die These, daß das Baugrubengraben und Häuslbauen damals auch die Funktion erfüllte, Kriegserinnerungen und Schuldgefühle in das Fundament einzubetonieren, folgt jene, daß damit zugleich das Elend der Kleinbürger besiegelt ist: auf alles im Leben verzichtet, hochverschuldet irgendwo fern der Ballungszentren, weit weg vom Arbeitsplatz in einer vermeintliche Idylle, auf sich und den Fernseher zurückgeworfen, ruhiggestellt mit Bauen, Reparieren und Gartenarbeit. "Freilich ruft dieses Elend," schreibt Pierre Bourdieu, "anders als die großen Härten der proletarischen oder subproletarischen Lebenssituation, nicht spontan Sympathie, Mitleid oder Empörung hervor. Und das wohl deshalb nicht, weil die Bestrebungen, die die Unzufriedenheit, die Desillusionierung und das Leiden der Kleinbürger nach sich ziehen, stets auch etwas der Komplizenschaft desjenigen, der diese Bedrückung erfährt, geschuldet zu sein scheinen, seinen irregeleiteten, entpreßten, entfremdeten Wünschen, durch die er ... untergründig an seinem eigenen Elend mitwirkt." (Bourdieu u.a., "Der Einzige und sein Eigenheim", VSA-Verlag Hamburg 1998). Und, so möchte man anfügen, weil diejenigen Intellektuellen, die diese Sympathie versagen, sich selbst untergründig noch mit den irregeleiteten Wünschen ihrer Klassenherkunft herumschlagen.

Die durchschnittliche Dauer von Lebensabschnittspartnerbeziehungen und Arbeitsverhältnissen dürfte heute allerdings kürzer als die Rückzahlungszeit der Hausbau-Kredite sein, und so ist das Phänomen der gesicherten Familien-Ruhigstellung durch das der zwangsflexibilisierten Single-Agilität - ein anderes Elend, an dem das Opfer selbst mitwirkt - abgelöst worden. Zugleich hat aber die Hälfte der Österreicher bereits ein Eigenheim, und die Hälfte der Österreicher im zweiten Lebensabschnitt lebt in ererbten Behausungen, Tendenz naturgemäß steigend. Die späte Rache des Kleinbürgertums an all jenen sozusagen, die das Festhalten an dieser unbeweglichen Anlageform belächelten. Nächste Generationen von Erben profitieren gerade von beträchtlichen Mobilitätsvorteilen (das Haus verkauft, ist die Ansiedlung woanders kreditfrei finanziert). Und auch so manch urbanes Intellektuellenpaar, das jahrzehntelang Bohemekneipen zum Wohnzimmer hatte, wurde schon im Baumarkt gesichtet oder hat im Garten des Großelternhauses über einen kleinen Sommer-Atelierzubau nachgedacht... (nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie Kinder bekämen).

Das traditionelle Einfamilienhaus ist also geschichtlich weder eine regressive Auflehnung des sprichwörtlichen Kleinbürgers gegen visionäres Stadtplanertum gewesen, noch ist es heute zwangsläufig immer ein Klotz an seinem Bein. Generationen von Künstlern haben dennoch seine vier Wände als Leinwand genommen und die ödipal durchtränkte Lossagung von Eltern und anderen Wichteln (Mühl-Kommunen-Jargon) als selbstexorzistische Blutwäsche daraufgegeben, nicht ohne dabei entweder zum reaktionären Ekel vor der Masse des Gurugenies zu kommen oder doch auch tiefe Einsichten in die Abgründe des normalen Verdrängungsalltags genommen zu haben.

Es wäre allzuleicht, das Eigenheim und damit die Kleinfamilie als eigentlichen Nukleus des Faschismus zu geißeln (womit nicht gesagt sei, daß er sich dort nicht zu Hause fühlen kann). Genausowenig kann man den Vorstadt-Kleinbürger zum neuen Helden der Emanzipation von urbanen Zwangsverhältnissen stilisieren.

Zinganels Interesse gilt dem Dazwischen: das Heim als ein weißes, noch ungefärbtes Modell in der Schwebe, auf das sich die Harmoniesucht des Kleinbürgers ebenso wirft wie Spott und Abscheu des intellektuellen Bohemiens.

Michael Zinganel ist vor diesem Hintergrund kein ambientöser Ausstattungskünstler, der ohne weitergehende Beschäftigung das Modell Einfamilienhaus zum Heliumballon macht (so wenig wie er mit seinen Bodenbearbeitungen ein Carl Andre des sozialen Wohnungsbaus ist). Das empirische Material ist nicht einfach nur benutzter Strukturgeber, sondern dialektisch mit Formgebung konfrontiertes Sujet - was man durchaus auch als seinen unausgesprochenen Kommentar zum hoffnungslos verannten kunstkritischen Schattenboxgefecht zwischen sog. Formalismus und sog. Inhaltismus auffassen darf, bei dem sich zwei Extremgrade der Kunstkonditionierung gegeneinander ausspielen (grob gesagt: phantasmatisch präsente Visualität versus sozial verhandelte Narrativität). Als hätte Kunst sich nicht immer schon genau im Spannungsfeld zwischen diesen beiden toten Enden abgespielt.

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