Akte Langenhagen


Akte Langenhagen, ein Projekt zur Spurensicherung in Kunst und "Verbrechen" unter der Leitung des Wiener Künstlers, Kurators und Architekturtheoretikers Michael Zinganel bestand aus einem Spurensicherungs-Workshop, Vorträgen, einem Spielfilmprogramm sowie zwei Ausstellungen:

Beweisführung I 02.04. - 18.04.2004
Beweisführung II 24.04. - 14.05.2004

Das Projekt bildete den Einstieg in das Jahresprogramm des Kunstvereins Langenhagen, das sich 2004 unter dem Titel Die verborgene Tat in unterschiedlicher Weise mit der Wahrnehmung von Dingen beschäftigt, deren vermeintliche Wahrheit und Bedeutung im Verborgenen vermutet wird. In fünf Ausstellungen und Veranstaltungen wurde die Wahrnehmung von sichtbarer und unsichtbarer Realität hinterfragt und reflektiert. Im ersten Projekt dienen Spuren von realen und fiktiven Verbrechen als Fallbeispiele zur Reflektion der menschlichen Wahrnehmung, die sowohl durch die Medien, soziale und politische Machtstrukturen als auch durch individuelle Erfahrung geprägt ist.

Das Projekt Akte Langenhagen beschäftigt sich demnach mit der Wahrnehmung von Zeichen und deren unterschiedlichen Lesbarkeiten am Beispiel fiktiver Kriminalfälle im Raum Langenhagen. Der Grundgedanke, die eigene Stadt als Detektive zu erkunden, beruht auf mehreren dem Detektiv in der Kulturgeschichte zugeschriebenen Fähigkeiten: nämlich unscheinbare Zeichen zu lesen, zu deuten und auf die Ganzheit der Stadt zu beziehen. Dabei steht die Spur im Zentrum – die nebensächlichen Details, welche erst durch die Überlagerung mit unterschiedlichem Vorwissen und individuellen Erfahrungen lesbar gemacht werden und auf die Wahrnehmung und Erfahrung der gesellschaftlichen, architektonischen und städtebaulichen Umgebung zurückwirken. Die Spurensuche des Detektivs, wie sie in der Kriminalberichterstattung und im Kriminalroman rezipiert wird, wird ab Mitte des 19. Jahrhundert – so behaupten zumindest Literaturwissenschafter – zur Leitvorstellung für die Lesbarkeit der Stadt.

Diese Vorgehensweise der Deutung eines ausschnitthaften Angebotes weist Parallelen zu der Arbeitsweise von Kunsthistorikern und Polizeidetektiven: Die Deutung von Zeichen und deren Verortung innerhalb ihres Kontextes als Angebote zur Wahrheitsfindung.

In seinem Vortrag Polizeiliche Spurensicherung als Einführung in die Zeichenlehre am 26. März 2004 verglich Michael Zinganel anhand von Beispielen aus Polizeiarbeit, Film und bildender Kunst die Felder der Polizeiarbeit mit jenen der künstlerischen Produktion. In beiden geht es um das Sammeln, Arrangieren und Deuten von Zeichen. Im ersten Fall um die „reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, wie sie sich wirklich zugetragen haben mag, in der Absicht, einen Schuldigen zu finden und zu verurteilen zu können. Im zweiten Fall geht es nicht um objektive Antworten, sondern um neue zusätzliche Fragen, was denn hinter dieser vermeintlich objektiven Wahrheit steckt.

Anschließend führte Eckhard Rühe, Kriminaloberkommissar vom zentralen Kriminaldienst der Polizeidirektion Hannover, Abt. Kriminaltechnik, in Methoden der kriminalistischen Spurensicherung ein: Beweise für ein Verbrechen? Einführung in Tatortarbeit und Spurensicherung.

Im Anschluss an die Vorträge begaben sich interessierte "Detektive" unter Leitung von Michael Zinganel auf Spurensuche nach "verdächtigen" Zeichen und Objekten in öffentlichen und privaten Räumen Langenhagens. Mit Hilfe polizeilicher Spurensicherung wurden Indizien gesammelt, geordnet und kommentiert. Die sichergestellten Objekte wurden analysiert, interpretiert und zu Erzählungen zusammengefügt.

Dabei werden Bedeutungen konstruiert, die sowohl von persönlicher Erfahrung, als auch von massenmedialer Überformung geprägt sind. Sie spiegeln unsere Vorstellungen von Gesellschaft und der architektonischen und städtebaulichen Struktur, in der wir leben.

Die gesammelten und geordneten "Indizien", einschließlich dem Foto- und Planmaterial ihrer Fundorte, werden durch die Teilnehmer des Workshops in "Beweisführung I" ausgestellt und bilden die Basis für fiktive Geschichten und Fälle, die nun – im Kunstverein – das Publikum interpretiert.

Drei Wochen später wird Beweisführung I durch Eingriffe, Reduzierungen und Hinzufügungen von Michael Zinganel "neu geordnet". Besucher und Öffentlichkeit werden erneut um "Mithilfe" an der Aufklärung des fiktiven "Verbrechens" – d. h. an der Deutung der ausgestellten Zeichen beteiligt. Beweisführung II wird am Samstag, dem 24. April, um 20:00 Uhr mit einem Vortrag von Dr. Cornelia Vismann, Frankfurt, eröffnet. Unter dem Titel Vor dem Gericht geht sie der Frage nach, worin die Affinität von Gericht und Theater begründet liegt. Dabei erörtert sie das Drama, das in der Antike die Funktion einer Probebühne für das Gericht einnahm.


Beweisführung II

Die Beweissammlung der einzelnen Workshopteilnehmer wurde von Michael Zinganel im kleinen Vorraum räumlich stark verdichtet gehängt. Die Komposition der Hängung folgte formalen Richtlinien, die aber gleichzeitig die Grenzen zwischen den einzelnen Fällen absichtlich verunklärten, um ein Querlesen der Fälle zu erleichtern. Die einzelnen Säckchen mit den Originalindizien aller Fälle wurden aus den Arrangements genommen und in strenger geometrischer Ordnung an einer Wand zusammengehängt. Diese Hängung wurden ergänzt durch Büromobiliar, das nunmehr den Eindruck einer Polizeiwachstube, wie wir sie aus Filmen kennen, erweckt, und das als Büchertisch für Sekundärliteratur zum Thema (gewissermaßen Forschungsunterlagen für den fiktiven Polizeidetektiv) diente.



Der Hauptraum wurde ganz bewusst extrem reduziert bespielt, sodass ein „radikales“ Ungleichgewicht zwischen Vorraum und Hauptraum entstand, gewissermaßen ein Überdruck im Vorraum, der sich in den Hauptraum zu entladen versuchte.

Im Hauptraum inszenierte der Künstler Michael Zinganel seine „persönliche“ Spurensicherung in Langenhagen. Im Gegensatz zu den BewohnerInnen Langenhagens, die vorrangig in und um ihren Arbeitsplatz oder Wohnort recherchiert haben, also in ihren Alltagsräumen, interessieren ihn Tatorte, die auch für Außen stehende, vor allem für Außen stehende aus dem Kunstbetrieb eine besondere Signifikanz zu haben scheinen: Der Flughafen, Sitz eines der wichtigsten Charterunternehmen und grösster Abschiebeterminal für Illegale; die überdimensionale Pferderennbahn, vor der Samstags ein Markt von MigrantInnen stattfindet; die außergewöhnliche Häufigkeit von Reisebüros mit kyrillischer Schrift; die Irrenanstalt, die auf die historische Funktion Langenhagens als Auslagerungsstätte von Unerwünschtem aus der benachbarten Großstadt Hannover verweist; und eine konspirative Wohnung, in der Ulrike Marie Meinhof verhaftet wurde.

Die klare Differenz zwischen den Untersuchungsorten der WorkshopteilnehmerInnen aus Langenhagen und dem ortsfremden Künstler ist keine Wertung, sondern Beweis für die verschiedenen Codierungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen.

Im Gegensatz zu den Workshop-TeilnehmerInnen, die nur mit dem gefundenen Material selbst arbeiten, versucht der Künstler zuerst den speziellen Charakter des Raumes mit Wandmalereien zu strukturieren. Dazu verwendet er Zeichensysteme, die aus der Kriminalistik bekannt sind, oder richtiger aus dessen filmischer Repräsentation:




Eine Längswand wird mit einem langen Lineal in Unterschenkelhöhe vermessen. An der anderen Längswand werden konzentrische Kreise aufgemalt, die wie eine große Zielscheibe aussehen tatsächlich aber in Fritz Langs M den Tatort auf einem Stadtplan eingrenzen.

An der Stirnwand schließlich werden horizontale Streifen aufgemalt, die als Hintergrund für Polizeifotos oder polizeiliche Gegenüberstellungen dienen, beispielsweise auch im Film The Usual Supects, der wie das Ausstellungsprojekt die Rekonstruktion eines fiktiven Kriminalfalles aus zufällig gefundenen Hinweisen zeigt.

An den Wänden im Raum verteilt der Künstler 5 Hörstellen aus CD-Playern mit Kopfhörern, auf denen jeweils ein einziges Indiz, das im Workshop gefunden wurde, in akribischer Genauigkeit ausschließlich sprachlich beschrieben wird. Ebenfalls im Raum werden „Spurensicherungskoffer“ verteilt, aus denen sich Papierbahnen entrollten, die stark vergrößerte Stadtpläne Langenhagens zeigen. Im Umfeld dieser Koffer und in relativer Bodennähe wurden dann die Fotos der vom Künstler für relevant gehaltenen Orte gehängt, in zu Hand collagierten Panoramen zusammengesetzt. Auf Beschriftungen oder Bezeichnungen in Fotos und Plänen wurde verzichtet, um keine Lesevorgaben zu setzen.



Wer auch immer sich in der Ausstellung bewegt, sich bückt, um die Fotos oder Pläne zu sehen, oder in die Kopfhörer hineinhört, begibt sich hier auf eine individuelle Rekonstruktion, die zwar vorstrukturiert ist, aber Lesemöglichkeiten offen lässt. Wer aber immer das tut, bewegt sich gleichzeitig in einem strengen abstrakten Vermessungssystem, ein Verweis auf die Wurzeln der Polizeiarbeit in den positivistischen Wissenschaften, deren Ziel immer auch eine Normierung der gesellschaftlichen Verhältnisse war.



Akte Langenhagen – Rahmenprogramm:

Sonntag, 28. März 2004, 11:00 Uhr
Kino Utopia, Walsroder Straße 105, Langenhagen
"M – eine Stadt sucht einen Mörder" D 1931, 108 min., Regie: Fritz Lang.
Mit Gustaf Gründgens, Peter Lorre, Inge Landgut u.a.

Sonntag, 18. April 2004, 11:00 Uhr
Kino Utopia, Walsroder Straße 105, Langenhagen
"Spellbound", USA 1945, 110 min., Regie: Alfred Hitchcock
Mit Ingrid Bergmann, Gregory Peck u.a.

Mittwoch, 21. April 2004, 19:30 Uhr
Michael Zinganel: REAL CRIME. Architektur, Stadt und Verbrechen
Lesung mit Diskussion, enercity café, Ständehausstr. 6, 30159 Hannover

Donnerstag, 22. April 2004, 15:30 Uhr
Besichtigung des größten Schuhspurenarchivs des BKA
Helmut Pröve führt durch die Sammlung. Ort: Polizei Langenhagen

Eröffnung der Ausstellung "Beweisführung II" von Michael Zinganel
Samstag, 24. April 2004, 20:00 Uhr

Es spricht: Dr. Cornelia Vismann:
"Vor dem Gericht" – über die Affinität von Gericht und Theater, die sie in der Antike begründet sieht. Dort nahm das Drama die Funktion der Probebühne für das Gericht ein.

Cornelia Vismann studierte Philosophie und Jura in Freiburg, Hamburg und Berlin. Promotion an der Juristischen Fakultät der J.W. Goethe Universität in Frankfurt am Main. Seit April 2002 ist sie wiss. Mitarbeiterin am Max Planck Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten stellt sie die Geschichte der Institutionen, Apparate und Werkzeuge der Rechtsprechung in den Kontext der Medientheorie sowie in den Entwicklung von Literatur und Theater.

Sonntag, 9. Mai 2004, 11:00 Uhr
Kino Utopia, Walsroder Straße 105, Langenhagen
"Othello", UK-Marokko 1948 - 52, 89 min., Regie: Orson Welles
Mit Orson Welles, Suzanne Coutier u. a.

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