Saisonstadt - Saisonopening



Einleitung

Neue deutsche Bundesländer: Wenn die Arbeitsplätze weniger werden, folgen Abwanderung, Entvölkerung und Schrumpfung. Ein Kreislauf, an dessen Ende entleerte Städte mit überalterter und konsumschwacher Bevölkerung stehen. Auf der Suche nach Arbeit, Anerkennung und Selbstverwirklichung haben viele die sozialen Netze gekappt und ihre Heimat für immer verlassen. Immer mehr Kommunen in den neuen Bundesländern leiden unter mangelnder bzw. schwankender Auslastung ihrer baulichen/technischen und sozialen Infrastrukturen bei gleichzeitig sinkendem Steueraufkommen. Ziel des Projektes war es, die Auswirkungen des berufsbedingten Pendelns als Alternative zu Abwanderung oder Langzeitarbeitslosigkeit zu untersuchen und neue Handlungsansätze unter diesen erschwerten Rahmenbedingungen zu entwickeln. Die aktuelle Datenlage dazu ist aber äußerst bescheiden. Um trotzdem zu brauchbaren Erfahrungswerten im Umgang mit Auslastungsproblemen zu kommen, wurde von den AutorInnen entschieden, eine von noch viel stärkeren saisonalen Schwankungen betroffene Tourismusregion zum Vergleich heranzuziehen.
Statt eine der viel diskutierten Retortenstädte in Spanien, der Türkei oder etwa gar in postkolonialen Fernreisedestinationen auszuwählen, fokussiert diese Untersuchung auf ein sehr nahes Ziel, das traditionell enge Verbindungen zu Deutschland aufweist: einen gewachsenen Ferienort in den Tiroler Alpen. Erstens hatten wir als in Österreich verortetes Projektteam hier einen leichteren Zugang zu Daten über Probleme des Infrastrukturmanagements und zu den involvierten Akteuren. Zweitens zeichnet sich in den Tiroler Alpen eine Veränderung der transnationalen Migrationsströme ab, in der gerade Deutsche eine zentrale Rolle spielen: Zwar stellen sie noch immer den größten Anteil an TouristInnen, Zahl und Kaufkraft der deutschen TouristInnen aber sinken signifikant. Und Deutsche sind nicht mehr ausschließlich als TouristInnen präsent, sondern in zunehmendem Maße auch als Saisonarbeitskräfte, die vor allem in der intensiven Wintersaison den Betrieb mit aufrechterhalten.
80 Prozent davon stammen aus den neuen Bundesländern. Mit ihren saisonalen touristischen Erfahrungen in der Tiroler Dienstleistungskultur sorgen sie nicht nur für einen zunehmenden Kapital-, Know-how- und Kulturtransfer in Richtung Norden, sondern auch für zahlreiche unintendierte Nebenwirkungen.
Nach der Zahl der angebotenen Arbeitsplätze fungiert die alpine Tourismusindustrie in Österreich mittlerweile als größter privater Arbeitgeber für BürgerInnen aus den neuen Bundesländern.

Das Projekt basiert auf Quellenrecherche in statistischen Datenbanken, vor allem aber auf Interviews mit Arbeitsuchenden, ArbeitsvermittlerInnen und ArbeitgeberInnen in den neuen Bundesländern und in Tirol. Zuerst werden die Entwicklung dieser neuen deutsch-österreichischen Arbeitsmigration und die Geschichte der Rekrutierung nachgezeichnet, beginnend 1999/2000, als erstmals private deutsche Arbeitsvermittlungen in Kooperation mit dem österreichischen Arbeitsmarktservice in den neuen Bundesländern offensiv Saisonarbeitskräfte für die Wintersaison anwarben. Danach wird der überraschend „entspannte“ Umgang der Tiroler mit der hohen saisonalen Arbeitslosigkeit, mit Leerstand und Überkapazitäten analysiert. Darauf aufbauend wird eine fiktive schrumpfende Stadt im Osten Deutschlands als Quellregion (von TouristInnen und Saisonniers) assoziativ einer realen boomenden Tourismushochburg in den Bergen Tirols gegenübergestellt: zwei einander füllende und entleerende Gefäße.
Es werden dabei auch die intendierten und unintendierten Rückwirkungen von Saisonarbeit auf die sozialen und urbanistischen Mikrostrukturen der Quellregionen untersucht. Die AutorInnen entwickeln eine Vision, die auf den von Tirol in die Heimat mitgebrachten Skills und Erfahrungen aufbaut. Dabei wandelt sich auch die Beziehung der saisonalen PendlerInnen zu ihrer Heimat: vom Alltäglichen zu außeralltäglichen, „touristischen“ Bild- und Erlebniswerten. Während aber die einen zu Hause Urlaub im Hotel Mama machen, überlegen die anderen, in ihre Heimat zu „investieren“. Für den künstlerisch-projektiven Abschnitt wurden daher die biographischen Stränge und die mikropolitischen Visionen der interviewten Akteure zeitlich, räumlich und sozial so weit zusammengezogen, dass sich daraus eine mögliche Bildfolge optimistischer Handlungsoptionen folgern lässt: Am Beispiel eines kleinen Lokales, das eine ehemalige Saisonarbeiterin in ihrer Heimat eröffnet, wird gezeigt, wie sich der Kultur-, Kapital- und Know-how-Transfer und die Nutzung der transnationalen Netzwerke touristischer Subkulturen produktiv mit lokalen Initiativen verbinden können und aus den heterogenen touristischen Erfahrungen unerwartete Chancen zur Selbstermächtigung der Akteure entstehen.

Aus dem Katalog
Zinganel, Albers, Hieslmair, Sagadin: SAISON OPENING. Kulturtransfer über ostdeutsch-tirolerische Migrationsrouten, Wien 2006, 96 Seiten, ISBN 3-86588-239-0
erschienen bei Revolver Frankfurt 2006 http://www.revolver-books.de/


Das Projekt entstand im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau.
Schrumpfende Städte ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit dem Projektbüro Philipp Oswalt, der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift archplus.

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